Es braucht nicht selten einen Weltkrieg oder sonst eine politische Katastrophe, damit liberale Ideen mehrheitsfähig werden. Ansonsten bleiben die Liberalen regelmässig in der Minderheit. Das ist nicht weiter verwunderlich, nützt doch eine freiheitliche Gesellschaftsordnung auf den ersten Blick direkt nur den Reichen und Starken. Dass ebenso Arme und Schwache, ja überhaupt alle von einer offenen Gesellschaft profitieren, beweist sich oft erst in der längeren Betrachtung. Ebenso wirken liberale Parolen zuweilen abweisend und schreckt der Aufruf zu Selbstverantwortung und Eigeninitiative ab. Es bedurfte deshalb einer überzeugenden Formulierung, um die neuzeitliche Idee der Freiheit durchzusetzen – ähnlich wie bei der hier so erfolgreichen Pharmaindustrie, die mit der sogenannten galenischen Formulierung, dem letzten Produktionsschritt, aus unbekömmlichem Pulver und wässrigen Lösungen schliesslich Medikamente herstellt, die eingenommen werden können.
Nation. Neben anderen Darreichungsformen brachten die Liberalen vor allem das Nationale hervor – die wohl erfolgreichste Galenik der Freiheit. Auch wenn sich frühere und spätere Gegner der Liberalen, Fürsten und Sozialisten, ebenfalls nationaler Motive bedienten, bleibt die Nation modernen Zuschnitts eine Erfindung der Liberalen. Besonders ausgeprägt ist dieser Entwicklungsprozess des Freiheitlichen zur Volksbewegung in zwei Ländern ausgefallen, die sich im 18. und 19. Jahrhundert gleichsam (neu) erfunden haben: In den USA und der Schweiz. Um der alten Ordnung emotional etwas entgegenzusetzen, besann man sich hierzulande auf Willhelm Tell, lehrte den Rütlischwur, dachte sich historische Trachten und später neue Gemeindewappen aus, druckte Helvetia auf Münzen und Briefmarken. Und man einigte sich auf den 1. August als altes Gründungsdatum einer neuen Nation. Es wurde „schweizerisch“, für diesen Wandel einzustehen. Ohne die sinnliche Farbenpracht des nationalen Pathos hätte sich die kühle Idee der Freiheit nicht durchgesetzt – und sich die Schweiz nicht zu einem der reichsten und sichersten Länder entwickelt.
Renaissance. Taugt die Idee des Nationalen noch heute als Formulierung der Freiheit? Ein Blick auf die Kampagnen für die nationalen Gesamterneuerungswahlen vom Herbst zeigt, dass so ziemlich alle Parteien sich erstens ein liberales Mäntelchen geben und zweitens mit der Schweiz werben. Gleichzeitig sind tatsächlich freiheitliche Parolen – für die Personenfreizügigkeit, die Straffung des Sozialstaats oder die künftige Technologiefreiheit in der Energiegewinnung – derzeit wenig populär, sehr wohl aber ein Gebot der Stunde. Ist der starre Stände- und Kirchenstaat von einst überwunden, hat sich heute die Freiheit gegen den wuchernden Wohlfahrtsstaat zu behaupten. Mit einer staatlichen Zwangsquote von gegen 50 Prozent der Wertschöpfung und einem immer dichteren Gesetzesteppich schrumpft der Freiraum des Einzelnen laufend zusammen.
Ob eine nationale Renaissance der Freiheit indes förderlich wäre, bleibt offen. Vielleicht schade, doch eigentlich harmlos fällt dabei die aktuelle Herabstufung des Nationalen von der sinngebenden Identität zum austauschbaren Marketinginstrument aus. So sorgte das knallige Schweizerkreuz auf dem T-Shirt der heutigen Basler Ständerätin kurz für Aufmerksamkeit, aber nicht für Inhalt – liberalen schon gar nicht.
Selbstzweck. Inhaltlich dagegen wird die Idee des Nationalen durch eine Neuinterpretation gefährdet, die sich nicht nur in der Schweiz, sondern im ganzen Westen langsam durchzusetzen scheint. Ursprünglich half das Nationale, die Grenzen sowie religiöse, ethnische, sprachliche oder soziale Gräben zu überwinden: Die moderne Schweiz setzte den Binnenhandel durch, und die USA verstanden sich als Einwanderernation unter Gott. Demgegenüber betont der geläufigere Begriff der Nationalität – wer spricht heute noch vom Nationalen? – das Wir und die Anderen. Die Nation steht nicht mehr für die Befreiung des Einzelnen, sondern für die Abgrenzung des Kollektivs. Manche Politiker verlieren ob der Unabhängigkeit der Schweiz die Unabhängigkeit der Schweizer – auch und gerade vor der eigenen Obrigkeit – aus den Augen und entleeren damit die Nation ihrer freiheitlichen Kraft. Diese droht so zum Selbstzweck zu verkommen. Dabei werden selbst bei einem Placebo, einem Medikament ganz ohne Wirkstoffe, Mittel und Zweck klar unterschieden, soll die galenische Formulierung immer eine bestimmte Wirkung erzielen.
Diese Neuinterpretation des Nationalen kommt indes nicht von ungefähr, sondern ist letztlich hausgemacht. Schliesslich konzentriert sich der Staat nicht mehr allein auf die Gesellschaftsordnung, sondern greift immer öfters direkt in die Gemeinschaften ein. Hebt die Politik die Grenzen zwischen der Öffentlichkeit und dem Privaten auf, wird das Land als Familie missverstanden und müssen alle für alle aufkommen, wird der Zaun zwangsläufig wieder enger gemacht. Stellen wir uns dieser Entwicklung nicht entgegen, droht der moderne Staat, den die Liberalen mit der Nation geschaffen haben, zum Totengräber der Idee seiner Gründerväter zu werden.
Danke, Herr Dürr, für die subtile Analyse. Dass der politische Liberalismus sich im 19. und 20. Jahrhundert mit dem nationalen Zentralismus verbündet hat, ist eine historische Tatsache und möglicherweise auch ein Grund für den damaligen Erfolg in den USA und in der Schweiz. Die national-liberalen Strömungen waren zwar erfolgreich, aber sie tragen wegen des Überschusses an entfesselter nationalistischer Energie eine Mitschuld an den Katastrophen der Weltkriege, die ja Nationenkriege waren. Rückblickend war es ein Fehler, dass sich die Liberalen im 19. Jahrhundert mit Nationalisten und Zentralisten ins ideologische Lotterbett gelegt haben. Die Manchester-Liberalen hatten mit ihrer konsequenten freihändlerischen Kritik an Staatsmacht, Zentralismus, Bürokratismus, Imperialismus und Bellizismus Recht. Nationalismus führt – vor allem in Kiegs- und Krisenzeiten zu einer nationalen korporatistischer Ökonomie. Sie ist ein Verrat an der liberalen Idee des globalen Freihandels. Ideengeschichtlich habe ich Mühe mit jeder Anknüpfung an die zentralistische national-liberale Koalition. Zentralisierung schafft mehr Macht, und diese Macht kann als Gegenmacht gegen Freiheitsfeinde eingesetzt werden. Was in der Startphase aussenpolitisch das Überleben in einem freiheitsfeindlichen Umfeld ermöglicht, trägt den Keim des ebenfalls freiheitsfeindlichen innenpolitischen Etatismus in sich. Auf die Dauer wird auch die von Liberalen gehandhabte nationale Zentralmacht korrumpiert, vor allem wenn das Mehrheitsprinzip etabliert ist. Das Gegenmittel ist ein Wettbewerb von kleinen politischen Einheiten, der konsequente Minderheitenschutz und der Vorrang der Privatautonomie vor dem politischen Zwangsapparat. Die Idee der Freiheit, die von den Freunden der nationalen Einheit lanciert wurde, muss also aus der Umklammerung des nationalen und übernationalen Zentralismus gelöst werden. Die permanente Entgiftung der Macht ist durch friedlich konkurrierende kleine politische und fiskalische Gebietskörperschaften (mit Exit-option)zu gewährleisten und durch eine möglichst wenig politisierte Zivilgesellschaft. Diesen Weg habe ich in meinen Büchlein „Lob des Non-Zentralismus“ zu skizzieren versucht.