Ich weiss nicht, wie viele 1.-August-Reden in den kommenden Tagen gehalten werden. Es dürften Hunderte, wenn nicht Tausende sein. Auf jeden Fall wird die Rede sein von der «Cohésion nationale», die gefährdet sei. Von der Schweiz, die «gerade in den heutigen Zeiten» enger zusammenstehen müsse. Von der nach innen oder, je nach politischer Färbung der Rede, von aussen bedrohten Solidarität. Nur in der Einheit sei man stark. Bei Grillständen und Feuerwerk spielt die Schweiz damit jeden Sommer die Nationwerdung gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach: Damals, aus dem alten Staatenbund war eben eine junge Nation geworden, wurde die Klammer um das Land kräftig aufpoliert. Man erinnerte sich der Habsburgerschlachten und Wilhelm Tell, förderte das Schwingen und Jodeln, baute das Landesmuseum und das Bundeshaus – und erfand den Ersten August.
Nach dem kurzen Sonderbundskrieg entstanden, ist die moderne Schweiz als einzige Staatsgründung aus den revolutionären 1840er-Jahren hervorgegangen. Demgegenüber vermochten die europäischen Grossmächte ähnliche eigene Bewegungen zu unterdrücken. Das lenkte nicht zuletzt von der raschen Revolution in der Schweiz ab, bevor hätte eingegriffen werden können.
Der Erfolg der Schweiz von 1848 mag aber vor allem auch damit zusammenhängen, dass sie den Nationalismus, im damaligen, «aufgeklärten» Sinne, «nötiger» hatte als andere Länder. Zum einen wurde die Bundesverfassung durch die Siegerjustiz diktiert – die Urkantone, Appenzell Innerrhoden und das Wallis haben alle bis heute vier zur Abstimmung gelangten Bundesverfassungen verworfen. Es brauchte also eine starke Ideologie, dies zu rechtfertigen, die in den Jahrzehnten danach zu einem überzeugende Narrativ werden musste, um die Verlierer an Bord zu bringen.
Zum anderen verband die Schweiz bekanntlich keine gemeinsame Sprache und keine gemeinsame Religion, es gab ärmere und reichere, ländliche und städtische Stände und nur bedingt eine gemeinsame Geschichte. Es gab nicht einmal eine gemeinsame Minderheit, auf die man sich hätte einschiessen können. Im Gegenteil bestand die Schweiz immer und je nach Fragestellung aus immer anderen Mehr- und Minderheiten. Und als kleines Land fast überall an den Grenzen, sass man sich immer auch ein wenig Rücken an Rücken. Es brauchte diese nationalistische Zentripetalidee, die viel zitierte Willensnation, um die zentrifugale Vielfalt des Landes zusammenzukriegen und zusammenzuhalten.
Obwohl der neue Staat mehr als ein ideelles Projekt war, sondern sehr praktisch aufs Leben der Bevölkerung durchgriff, beschränkten sich nach 1848 die unmittelbaren Konsequenzen für den Bürger zu grossen Teilen auf Freiheits- und darunter Wirtschaftsrechte. Der «Bundesstaat», der es damals noch tatsächlich war, monopolisierte ferner die Aussenbeziehungen, etwa Zoll und Armee, und setzte sich – jetzt mehr Patron als Schiedsgericht – für das einvernehmliche Miteinander zwischen den Kantonen sowie den gesamtschweizerischen Freihandel ein. Innerhalb der Kantone aber hielt er sich zunächst zurück. Namentlich verblieben so zentrale Themen des «üblichen» Nation Building, wie die innere Sicherheit und die Bildung, bei den grundsätzlich als nach wie vor souverän bezeichneten Kantonen.
Der Wille der Willensnation, ist man in Anlehnung an Isaiah Berlin versucht zu sagen, konzentrierte sich zu guten Teilen auf den Willen wovon statt wofür. Sie vergrösserte die Freiheit des Einzelnen, erleichterte den Binnenmarkt und erlaubte weiterhin eine kleinteilige Staatlichkeit – und bewahrte diese vor dem Aufgehen in einem grösseren Kollektiv. Die moderne Schweiz präsentierte sich somit gleichzeitig typisch und untypisch für den Nationalismus. Sie vereinigte keine Völker und egalisierte keine Reiche, vielmehr schuf der schweizerische Nationalismus etwas tatsächlich Supragemeinschaftliches, eine Nation der Vielfalt statt der Gleichheit. Dies dürfte wesentlich miterklären, warum sich unsere Nation im Jahrhundert danach keine völkischen Exzesse leistete, die anderswo und darüber hinaus den Nationalismus begrifflich und ideell nachhaltig diskreditierten.
Und heute? Erst nahm die Zentralisierung nur langsam zu. Wichtige Schritte, die weder mit der Unabhängigkeit nach aussen noch dem Binnenmarkt nach innen zu tun hatten, waren etwa das gemeinsame Strafgesetzbuch vor, die danach zur Direkten Bundessteuer perpetuierten Wehrsteuer im und der massive Ausbau des Sozialversicherungswesens nach dem Zweiten Weltkrieg. Der technische Fortschritt verlangte beziehungsweise der Wirtschaftsboom ermöglichte schliesslich mehr und mehr Regelungen, die der Bund weitgehend für sich beanspruchte – vom Strassenverkehr über die Energie und die Gesundheit bis hin zum sogenannten Konsumentenschutz: Die Gesetzes- und besonders die Verordnungsdichte des Bundes explodierte geradezu.
Das Zuckerbrot zur Peitsche stellte in dieser rasanten Entwicklung der Nachkriegszeit der zunehmend formellere und grössere nationale Finanzausgleich dar, der heuer zum ersten Mal über fünf Milliarden Franken beträgt. Die hierbei kürzlich definierte Entflechtung der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen verwässerte sich rascher, als sie erarbeitet worden war. Mittlerweile subventioniert der Bund kantonale oder gar kommunale Kinderkrippen und Museen, Integrationsprogramme für Migranten und Sensibilisierungskampagnen im Rotlichtmilieu. Und als jüngst ein Co-Präsident der sogenannten Burka-Initiative – es wird im 170. Jubiläumsjahr der Gründung dieser einzigartigen Nation tatsächlich über eine Kleiderbestimmung in der Bundesverfassung abgestimmt! – auf einem Sender der SRG SSR idée suisse (sic!) gefragt wurde, ob derlei wirklich schweizweit geregelt gehöre, meinte dieser, das könne doch nicht jeder Kanton selbst entscheiden…
In den über anderthalb Jahrhunderten seit 1848 verblich die Vielfalt stark. Aus Zentrifugal- und Zentripetal- sind Sogkräfte, aus einigermassen souveränen Kantonen fast Bezirke eines beliebigen Landes geworden. Aus dem Willen zur individuellen und kantonalen Eigenständigkeit wurde der kollektive Drang zum Bund: Sechs von sieben Bundesräten stammen heute aus sogenannten Nehmerkantonen.
Das alles mag man richtig oder falsch finden. Aber man muss und kann am Ersten August, nach dem Klöpfer und vor der Rakete, die einstige nationale Schweizer Klammer nicht mehr beschwören. Sie wich längst herkömmlicher Staatlichkeit.
Der vorliegende Text ist zuerst in der Basellandschaftlichen Zeitung erschienen.