Guter und böser Liberalismus

Patrick Marcolli, unlängst vom Rhein an die Spree gezogen, hat sich in einem Artikel über die deutsche FDP grundsätzliche Gedanken zum Liberalismus gemacht. Seine Carte blanche „Falscher und echter Liberalismus“ (Basler Zeitung vom 1. Februar 2012) ist lesenswert und provoziert gleichzeitig zum Widerspruch. Zuerst fällt auf, dass zwischen den Zeilen er sich selbst als Liberaler sieht und damit dem Gros der heutigen Politiker und Kommentaren entspricht. Ob sozialliberal, liberalkonservativ, grün- oder sonstwie liberal – als liberal bezeichnen wir uns heute fast alle. Das ist prima vista erfreulich, denn selbstverständlich war dieses prinzipielle Eintreten für das Primat des Einzelnen vor dem Kollektiv nicht immer. Und interpretiert man die vielzitierte „Überwindung des Kapitalismus“ noch im aktuellen Parteiprogramm der Sozialdemokraten nicht als wohl geschmack-, aber harmlose Geschichtsverklärung, sondern im Sinne der Worte, läuft es jedem einigermassen Liberalen kalt den Rücken hinunter. Gleichzeitig verwildert die liberale Idee zu einer Projektionsfläche für allerlei, zu einem Etikett, das jedem eigenen Weltbild von Gut und Böse aufgeklebt werden kann.

Pervertierung. Marcolli unterscheidet zwischen Wirtschaftsliberalismus (verdächtig) und Gesellschaftsliberalismus (gut), erklärt diese Differenzierung mit der Finanzwirtschaft (bös), dem Neoliberalismus (böser) und dem Duo Thatcher/Reagan (ganz bös) und vermengt dabei Verschiedenes. Während der Neoliberalismus als Antwort der Nachkriegszeit auf den national- und anderweitig sozialistischen Terror den Begriff der sozialen Marktwirtschaft geprägt hatte, standen Thatcher und Reagan für die erfolgreiche Epoche zwischen der Stagnation der 1970er Jahre und dem friedlichen Ende des Kalten Kriegs. Die „Entfesselung“ der Finanzwirtschaft wiederum, die Marcolli ausmacht, ist späteren Datums, sofern damit die jüngste Finanz- oder die aktuelle Schuldenkrise gemeint sein sollte. Zumindest letztere aber ist keineswegs Ausdruck irgendeines Liberalismus, sondern im Gegenteil der Pervertierung jener sozialen Marktwirtschaft, die am Anfang einer der erfolgreichsten Abschnitte der europäischen Geschichte gestanden hat und heute als Erklärungshülse des milliarden- und billionenfachen Staatsversagens vom Ural bis an den Atlantik missbraucht wird.

Reflexe. Indes ist Marcolli mit der Unterscheidung von „Wirtschaftsliberalismus“ und „Gesellschaftsliberalismus“ Recht zu geben – weniger ideengeschichtlich, aber mit Blick auf den politischen Alltag. Tatsächlich funktionieren die Reflexe rechts und links auf den beiden Seiten derselben Liberalismus-Medaille entgegengesetzt. Staatliche Steuerfahnder werden nur von rechts, staatliche Sozialinspektoren nur von links bekämpft. Die Rechten wollen sich in das wirtschaftliche Gebaren nicht dreinreden lassen, reden aber richtigen und falschen Familienformen das Wort. Und die Linken sehen in der kulturellen Ungleichheit das Heil und in der wirtschaftlichen Ungleichheit das Übel. Linker und rechter „Liberalismus“ wird damit zum Erfüllungsgehilfen der eigenen Vorstellungen von Gut und Bös, verkommt zur „Freiheit wofür“ statt zur „Freiheit wovon“.

Zweck. Auch Marcolli will dem Liberalismus eine Aufgabe, einen Zweck anhängen, nämlich das Beseitigen von „gegebenen sozialen Ungleichheiten“. Ganz abgesehen davon, dass in einer offenen Gesellschaft normativ nichts „gegeben“ ist, kann diese Aufgabe liberal nur durch das Verständnis gelöst werden, dass die Freiheit nicht alle Menschen, aber mehr als die Unfreiheit besser stellt. Und dieses Verständnis verlangt nach weniger und nicht mehr Staatseingriffen. Die Freiheit macht nicht nur die Reichen, sondern auch die Armen reicher, die Besteuerung nicht nur die Reichen, sondern auch die Armen ärmer. Und wer dennoch den zentralen Leitsatz der Nächstenliebe – neudeutsch: Solidarität – von der gemeinschaftlichen auf die gesellschaftliche Ebene heben möchte, dem sei in Erinnerung gerufen, dass derzeit unter diesem Titel soviel umverteilt wird wie noch nie und vielleicht nie mehr. Allein in der Schweiz beträgt die mehr oder minder soziale Umverteilung zwischen 100 und 200 Milliarden – so genau weiss dies im Dickicht des ausufernden Wohlfahrtsstaates niemand mehr.

Erkenntnis. Letztlich verfolgt die offene Gesellschaft keinen Zweck. An der Erkenntnis dieser Quintessenz des Liberalismus sollten sich alle messen lassen, die sich der vermeintlich grossen Familie der Liberalen zugehörig fühlen. Es mag demnach sehr wohl falschen und echten Liberalismus geben, wie Patrick Marcolli schreibt, aber keinen guten und bösen, wie er vielleicht meint.

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