Die Strahlkraft der Justitia

Die Kanalisierung der Rache zählt zu den grössten Errungenschaften der Zivilisation. Die Sippe soll Vergehen nicht mehr «willkürlich», sondern nach mehr oder weniger definierten «Regeln» ahnden. Das gilt intern gegenüber den eigenen Mitgliedern und vor allem extern gegenüber anderen Clans. Wie diese Regeln auch immer konkret lauten, wie genau sie formuliert, wie konsequent sie eingehalten und durchgesetzt werden, ob «demokratisch legitimiert» oder nicht: Ohne diese «Justiz» wäre der Sprung von der Ansammlung einzelner Gemeinschaften zur austauschenden Gesellschaft nicht gelungen.

Gelingen konnte und kann dies nur, weil und wenn die Justiz akzeptiert ist. Wir hängen den Kinderschänder nicht an den nächsten Baum, ein Beispiel ausserhalb des heutigen hiesigen Regelwerks, weil wir von der Richtigkeit des «Strafrechts», ein Beispiel der aktuellen Justiz, im Grossen und Ganzen überzeugt sind. Diese Akzeptanz ist erste Bedingung und erster Zweck jeder Rechtsordnung – oder mit anderen Worten: Die allegorische Justitia, vermeintlich nur objektiv die Gerechtigkeit abwiegend, sorgt kraft ihrer Ausstrahlung dafür, dass wir uns gegenseitig nicht die Köpfe einschlagen.

Mehr Insassen als Haftplätze

Zu dieser Justitia müssen wir Sorge tragen. Wir alle im Allgemeinen, und wir Justizbehörden, hierfür gewählt und angestellt, im Besonderen. Im Alltag geht es dabei nicht zuvorderst um Strafrechtstheorien, sondern ganz handfest um Täter und Opfer, Schuld und Strafe, Entscheidung und Information – und auch um ziemlich viel Geld. Die jeweils rund 300 bis 400 Personen im Straf- und Massnahmenvollzug kosten Basel-Stadt derzeit mehr als 30 Millionen Franken im Jahr. Hinzu kommen rund 5 Millionen Franken für die Untersuchungshaft. Praktisch alle diese Kennzahlen nehmen seit geraumer Zeit teilweise stark zu, und jüngst hat es schweizweit zum ersten Mal mehr Gefängnisinsassen als Haftplätze gegeben.

Denn trotz oder vielmehr wegen der öffentlichen Debatte über die Sicherheit als einen weiteren Zweck der Justiz sind die Behörden in den letzten Jahren deutlich restriktiver geworden. Besonders ausgeprägt präsentierte sich dies in Basel-Stadt. So beschloss 2009 die Präsidentenkonferenz des Strafgerichts, Gewaltstraftäter künftig härter zu sanktionieren. Einen markanten Einfluss auf die Urteilspraxis hatte auch 2011 der Wechsel der Strafbefehlskompetenz von den Gerichten zur Staats anwaltschaft. Insgesamt verdoppelte sich der Anteil der unbedingten Freiheitsstrafen an allen Strafen in Basel-Stadt innert zweier Jahre auf rund 
15 Prozent und liegt damit mehr als anderthalbmal über dem gesamt schweizerischen Mittel. Allein die kurzen unbedingten Freiheitsstrafen bis sechs Monate haben sich in kurzer Zeit beinahe verfünffacht. Und in der Strafanstalt Bostadel, die Basel-Stadt zusammen mit dem Kanton Zug betreibt, wurden 2013 insgesamt knapp 50 Hafturlaube und Ausgänge bewilligt. 1985 waren es noch 850.

Einzelfälle bekommen Gesicht

Hinter und vor diesen Zahlen stehen Menschen. Frauen und Männer, jünger und älter, die mit einer bestimmten Persönlichkeit in einer bestimmten Situation eine bestimmte Tat begangen haben. Die Repräsentanten von Politik und Strafbehörden – vom legiferierenden Parlamentarier und dem verhaftenden Polizisten über die Verantwortlichen der Untersuchung, des Urteils und des Vollzugs bis hin zum Aufseher im Gefängnis. Und Dritte, die als Opfer direkt oder als Kommentatoren und Beobachter indirekt mit einem konkreten Fall befasst sind oder sich befasst machen. In diesem Beziehungsfeld zeigt und entwickelt sich die Strahlkraft der Justitia ständig neu.

Die letzten Schlagzeilen hierzu haben die Fälle «Carlos» und «Egger» geliefert. Im einen Fall gab und gibt das sogenannte Sondersetting für einen straffälligen Jugendlichen, im anderen ein Straftäter zu diskutieren, der sich der sexuellen Handlungen mit Kindern schuldig machte, selbst auf die Medien zuging und jüngst nach einer Entweichung wieder aufgegriffen werden konnte. Nicht zufällig geht es in beiden Fällen um Sanktionen ausserhalb des «normalen» Strafrechts, nämlich um den Bereich des Jugendstrafrechts und jenen der therapeutischen Massnahmen im Erwachsenenstrafrecht.

In beiden Bereichen ist das Regelwerk eher «weich», kommt den Vollzugsbehörden von Gesetzes wegen ein grösserer Handlungsspielraum zu und liegen die Kosten zumeist über dem «normalen» Vollzug. Auch steht in beiden Kategorien die Behandlung der Täter vor deren Bestrafung, was die Akzeptanz dieser Sanktionen gemeinhin erschwert. Gleichzeitig bekamen zwei Einzelfälle einen Namen, ein Gesicht, ein Schicksal, sie wurden zu Menschen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum dem Basler Justizdepartement im Fall Egger zeitgleich (!) «peinliche Kuscheljustiz» und «unrechtmässige Justizwillkür» vorgeworfen worden sind.

Debatte ist wichtig und richtig

Welche Schlussfolgerungen ziehen wir daraus? Erstens ist die öffentliche Debatte wichtig und richtig. Auch wenn es für Justizbehörden Einfacheres zu erläutern gibt als unbegleitete Ausgänge eines Verurteilten auf dem Klinikareal oder Thaiboxen zur Besserung eines Gewalttäters, ist Transparenz für die Akzeptanz unerlässlich. Es ist deshalb zu begrüssen, dass etwa das Basler Appellationsgericht seine Urteile neuerdings publiziert oder die Einführung von Internet-Übertragungen der Verhandlungen am Bundesgericht zur Diskussion steht.

Obschon zweitens die öffentliche Debatte ohne exemplarische «Geschichten» nicht funktioniert, sind dabei die involvierten Personen zu schützen, auch vor sich selbst – und auf beiden Seiten der Schranke. Zum einen sollten sich Journalisten oder auch Anwälte gut überlegen, ob es zum Nutzen ihres Protagonisten oder Mandanten ist, diesen ins Rampenlicht zu stellen. Zum anderen kann die zunehmende Brandmarkung einzelner Verwaltungsmitarbeiter dazu führen, dass für diese anspruchs- und verantwortungsvollen Positionen keine geeigneten Kandidaten mehr gefunden werden. Es sollte für die mediale Debatte eigentlich reichen, die obersten Zuständigen, zum Beispiel den verantwortlichen Regierungsrat, namentlich zu kritisieren.

Drittens müssen die Behörden von dem überzeugt und sich einig sein, was sie machen. Dies bedingt gerade im Vollzug – bei Erwachsenen wie Jugendlichen, bei Massnahmen wie Haftstrafen – eine enge Zusammenarbeit aller Beteiligten sowie die Bereitschaft, ständig selbstkritisch dazuzulernen. Indes kann und darf nicht jede öffentliche Kritik sogleich zur Anpassung von Gesetz und Vollzug oder einer konkreten Einzelmassnahme führen. Im Gegenteil sorgen Konstanz und Verlässlichkeit, nicht zuletzt auch das Ausharren im Gegenwind für Vertrauen. Dies gilt auch für die Kommunikation.

Breite Akzeptanz zentral

In einer Balance dazu steht viertens die Erkenntnis, dass die Justiz nicht nur sich verlauten lassen, sondern auch gehört werden muss. Ansonsten verliert sie ihre Akzeptanz genauso: Regeln, die weitgehend unkommunizierbar bleiben, überleben nicht lange. So will der Bundesrat die erst vor wenigen Jahren eingeführte bedingte Geldstrafe bereits wieder abschaffen. Überhaupt ist das feine Gleichgewicht zwischen dem, was man Expertenwissen und gesunden Menschenverstand nennt, für die breite Akzeptanz der Justiz zentral. Auch das neue Basler Gerichtsorganisationsgesetz sieht deshalb Laienrichter vor, und im Parlament und an der Urne entscheiden richtigerweise nicht nur Strafrechtsprofis über neue Gesetze.

So glaubwürdig fünftens die Justiz «vorne» ihr Regelwerk durchsetzen muss, so konsequent muss sie gemäss demselben Regelwerk ihre Verantwortung wahrnehmen, Personen aus dem Straf- und Massnahmenvollzug «hinten» nach Möglichkeit wieder zu entlassen. Obwohl der Kanton Basel-Stadt grosse Investitionen in das Untersuchungsgefängnis, das Gefängnis Bässlergut, das Vollzugszentrum Klosterfiechten und die Strafanstalt Bostadel teils bereits tätigt, teils erst plant, können und dürfen die finanziellen Mittel der Justiz nicht unbegrenzt wachsen.

Die Bevölkerung hat den Anspruch, der Justiz vertrauen zu können, und die zu diesem Zweck eingesetzten Behörden die Aufgabe, dieses Vertrauen sicherzustellen. Hierfür wiederum sind diese darauf angewiesen, von der Bevölkerung akzeptiert zu sein. Letztlich können wir die Definition und Durchsetzung der Regeln unserer Gesellschaft nicht Dritten überbürden, sondern nur uns gegenseitig und damit uns selbst binden. Die Strahlkraft der Justitia, die unsere Rache zähmt, verantworten wir alle.

 

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