Ein Plädoyer für die Verwaltung – und gute Gesetzgebung

Die allgemeine Verrechtlichung gehört zu den grossen Klagen unserer Zeit. Tatsächlich nimmt der Umfang der Gesetzestexte, aber auch der Verordnungen und der verwaltungsinternen Handlungsrichtlinien zu, wird bei der öffentlichen Hand pro- und reaktiv mehr geschrieben, begründet und verfügt, reklamieren Verwaltung und Gerichte mehr Mittel. Dies gilt für das Strafrecht und vor allem fürs Verwaltungsrecht, auf allen Staatsebenen. Gerade von bürgerlicher Seite wird dafür gerne «die Verwaltung» verantwortlich gemacht: Als selbsterhaltendes System wollten und würden «die Beamten» ihre Wirkungsmacht an Bevölkerung und Politik vorbei laufend ausbauen.

Schmaler Grat

Meine Erfahrung zumindest auf der kantonalen und kommunalen Ebene (der Kanton Basel-Stadt nimmt auch die Aufgaben der Einwohnergemeinde Basel wahr) ist dies klarermassen nicht: Die selbstinitiierten Gesetzesrevisionen «meiner» Verwaltung haben die Erlasse in der Regel gekürzt, nicht verlängert. Im parlamentarischen Prozess musste ich mich mehr gegen als für neue Bestimmungen wehren, und praktisch jedes zusätzliche Recht, das ich zu verantworten hatte, ging entweder auf Forderungen der kantonalen Politik zurück oder lag je länger je mehr im Nachvollzug von Bundesrecht begründet.

Der Hauptgrund liegt meines Erachtens anderswo: Zum einen nimmt die Anspruchshaltung der Bevölkerung gegenüber dem öffentlichen Dienstleistungsapparat quantitativ und qualitativ zu. Sobald man irgendetwas braucht, wird der Ruf nach dem Staat laut – von links bis rechts. Nur vordergründig widersprüchlich, denn ebenfalls Ausdruck einer wenn auch «negativen» Anspruchshaltung nimmt gleichzeitig die Akzeptanz staatlichen Handelns ab, wenn einem dieses im Moment nicht passt. Dieser Megatrend dürfte sich damit erklären, dass die offene Gesellschaft immer mehr zur Gemeinschaft verkommt, in der Angebot und Nachfrage aller Art nicht mehr individuell verhandelt, sondern vielmehr von allen für alle entschieden werden.

Gesunder Menschenverstand

Dies befördert die tatsächliche und wahrgenommene Verrechtlichung mehrfach. Der ubiquitäre Drang zur öffentlichen Hand zieht logischerweise mehr Recht nach sich. Jede neue Dienstleistung muss legitimiert, definiert und abgegrenzt werden. Das zunehmende Recht fällt sodann überproportional auf, wenn die Akzeptanz dafür sinkt. Und schliesslich wird die Verwaltung, die erst jetzt ins Spiel kommt, durch sowohl die positive als auch die negative Anspruchshaltung gefordert und nicht selten verunsichert. Während etwa ein Polizist sich früher mit ein paar wenigen Gesetzesartikeln, insbesondere der polizeilichen Generalklausel, weitgehend durch den Alltag brachte, ist mittlerweile der Grat zwischen dem, was er unbedingt muss, und dem, was er keineswegs darf, schmal geworden. Rasch hat er heute eine Anzeige oder gar eine Verurteilung entweder wegen Amtsmissbrauch einer- oder wegen Begünstigung anderseits am Hals. Deshalb drängt die Verwaltung darauf, sich rechtlich abzusichern, um möglichst wenig Fehler überhaupt machen zu können und damit weitere Angriffsflächen zu vermeiden.

Auch dies muss nicht per se schlecht sein, verantwortet der Bürger als Auftraggeber letztlich das, was er bestellt. Anspruchsvoll aber wird es dann, wenn die schwindende Flexibilität der Verwaltung kritisiert wird, phantasielose Paragraphenreiter gesehen werden und stattdessen (sehr beliebt!) der gesunde Menschenverstand eingefordert wird und gleichzeitig sogleich Willkür oder anderweitig illegales Handeln oder Nichthandeln reklamiert wird, wenn die Polizistin auf der Strasse, der Beamte am Schalter und die Sachbearbeiterin im Büro den verbliebenen Handlungsspielraum wahrnehmen und tatsächlich nach gesundem Menschenverstand etwas machen – oder halt nicht.

Dieses Phänomen ist nicht nur im direkten Verhältnis zwischen Bürger und Staat zu beobachten, sondern auch bei der Verwaltungsorganisation. Wiederkehrend wird politisch wie medial bedauert, wie langsam, kompliziert und veraltet die Verwaltung funktioniere. Aber werden die restriktiven Rahmenbedingungen vom Beschaffungs- über das Datenschutz- bis zum Personalrecht für einmal am pragmatischen Ende interpretiert, sind jene nicht weit, die den Fehler suchen und den Skandal wittern.

Liberale Warte

Dieser Spagat ist wohl die gegenwärtige Hauptherausforderung von Verwaltungsverantwortlichen schlechthin – im doppelten Sinne: Den äusseren Spagat zu schaffen, den durchaus widersprüchlichen Erwartungen der Öffentlichkeit an das Recht und seine Auslegung gerecht zu werden, genauso wie den inneren Spagat zu meistern, die Rechtskonformität zu wahren, ohne sich auf eine (Nicht)strategie der Fehlerlosigkeit zu versteifen.

Dieses Dilemma muss und kann letztlich ausgehalten werden, zumal das allgemeine Vertrauen in die öffentliche Verwaltung hierzulande trotz allem hoch ist. Gleichzeitig kann – und aus liberaler Warte soll – wider dem Trend versucht werden, so wenig wie möglich der Befassung durch den Staat und der Fassung in einem Gesetz auszusetzen; getreu der Devise, dass nicht alles ein Problem ist, es nicht für jedes Problem eine Lösung gibt, nicht jede Lösung die Politik braucht und nicht jede politische Lösung ein neues Gesetz bedeutet (und nicht jedes neue Gesetz [verwaltungs]strafrechtlicher Bestimmungen bedarf). Dem gerecht zu werden, gelingt in der Praxis nicht immer: Politiker aller Couleur wissen darum, sich aktiv besser als passiv profilieren zu können. Folglich gibt es kaum ein Thema, das es nicht auf die politische Traktandenliste schafft, wie die breite Palette parlamentarischer Vorstösse in Bund und Kantonen zeigt.

Schweizer Errungenschaft

Umso wichtiger ist nachgelagert jener Ort, wo aus Politik Verwaltung wird, wo Rechtsumfang und Rechtsverständnis konkret geschaffen werden, sich also besagter Megatrend beschleunigt oder verlangsamt: Die eigentliche Gesetzgebung. Das beginnt damit, dass klar sein und klar formuliert beziehungsweise spätestens mit der Formulierung Klarheit geschaffen werden muss, was erreicht werden soll. Wann etwa ein Taxi ein Taxi ist, ist bei einem Taxigesetz erst zu klären – gar nicht so banal. Modische Formulierungen wie «sollte» und «strebt an» sind zu vermeiden. Gerade im Umwelt- oder Gleichstellungsbereich werden heute Ziele, manchmal für die ferne Zukunft, in einem Gesetz verankert, das es den Behörden wie den Rechtsunterworfenen schwierig gestaltet, daraus konkrete Rechte und Pflichten, letztlich Kern jedes Gesetzes, herauszulesen. Ebenso schlägt das regelmässige Ansinnen von Parlamentskommissionen fehl, mit langen «insbesondere»-Listen, umständlichen Querverweisen oder der Wiederholung rechtsstaatlicher Prinzipien wie «wenn und soweit zur Erfüllung der Aufgabe zwingend» ganze Materialien in Gesetzestext giessen zu wollen. Dies schafft auf beiden Seiten – Behörden und Bevölkerung – kaum mehr Verständnis, ist der Lesbarkeit aber abträglich. Dabei bleibt die Schweizer Errungenschaft, dass ein Gesetz auch vom Durchschnittsbürger ohne juristische Bildung verstanden werden kann, für die breite Akzeptanz des Rechts eminent. Schliesslich ist von Anfang an der Systematik und damit auch der Kommunizierbarkeit jedes Gesetzes zu bedenken: Dessen rechtliche Einbettung bildet die Basis für dessen Erklärung in die generelle Problemlage und die übergeordnete Politik.

Diese Grundsätze und das weitere Einmaleins der Legistik – vom Normenkonzept bis zur Schlussredaktion – sind eigentlich bekannt. Sie gehören aber nicht in den juristischen Elfenbeinturm, sondern zum ständigen Auftrag aller, die an Gesetzen schreiben. Das gilt für die Politik und die Verwaltung gleichermassen – und ist nicht immer selbstverständlich. In der Hektik des Alltags, vielleicht auch im Bedenken der eigenen (fehlenden) Klarheit überlassen die Verantwortlichen diese zentrale Arbeit oft allein dem juristischen Sachbearbeiter.

«Die Arbeit an der Sprache ist Arbeit am Gedanken», hat uns Friedrich Dürrenmatt gelehrt. Die Arbeit am Rechtstext ist Arbeit an der Politik. Klares Denken und richtiges Formulieren allein mag die allgemeine Verrechtlichung nicht zu stoppen, aber mitzuhelfen, sie für alle Beteiligten und Betroffenen akzeptabler zu machen. Wenn schon (mehr) Recht, dann eben gutes.

Eine gekürzte Version dieses Artikels erschien zuerst im Tages-Anzeiger.

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