Gehen Sie in die Politik!

Politik und Wirtschaft haben sich auseinandergelebt. Das hat unter anderem mit dem Personal zu tun: Immer weniger Wirtschaftsvertreter gehen in die Politik. Dem operativ tätigen Top-Manager auf C-Level kann man wohl keinen Vorwurf machen, wenn er kaum Zeit aufbringt, sich in der Politik zu engagieren. Aber bei Verwaltungsrätinnen und Verwaltungsräten, oft zeitlich flexibler unterwegs, kann – und sollte – es anders aussehen.

Dass sich Politik und Wirtschaft, wenn nicht entfremdet, so doch etwas voneinander entfernt haben, gehört in der Schweiz zu den oft beschriebenen Megatrends. Zwar gewinnen die Wirtschaftsverbände noch immer die meisten Abstimmungen – aber nicht mehr immer, wie die «13. AHV-Rente» jüngst prominent zeigte. Vorbei scheinen die Zeiten, als die Schweizerinnen und Schweizer, international bestaunt, zwei zusätzliche bezahlte Ferienwochen noch mit zwei Dritteln abschmetterten.

Die Entfernung ist gegenseitig: Die Wirtschaft hat früher besonders die regionale und die lokale Politik mehr unterstützt. Als ich vor dreissig Jahren in die Politik ging, hatte die kantonale bürgerliche Partei noch ein strukturelles Budget – ohne die nicht jährlich anfallenden Wahlkampagnen – von rund einer halben Million Franken. Daraus wurde später eine Viertelmillion, und heute sind die Jahresbudgets noch knapp sechsstellig. Dieser Schwund geht vor allem auf Mindereinnahmen aus der Wirtschaft zurück. Teils mögen diese Gelder mit der zunehmenden Zentralisierung der Schweizer Politik nach Bundesbern geflossen sein, teils fielen sie schlicht weg.

Wenig Vertrauen in die Wirtschaft …

Warum gilt nicht mehr, dass gut fürs Land ist, was gut für die Wirtschaft ist? Regelmässig werden die bestimmt schwierig zu erläuternden und deshalb gerne skandalisierten Spitzengehälter ins Feld geführt, um zu erklären, warum das Vertrauen in die Wirtschaft erodiert. Auch wenn diese Spitzengehälter die Stimmungslage durchaus nicht verbessern, erachte ich dieses Argument als überschätzt. Vielmehr dürfte man dem Wohlstandsversprechen der Wirtschaft weniger glauben als auch schon.

Zwar sind heute alle so reich wie noch nie, aber die Wachstumsraten haben sich tendenziell verflacht. Is the best still to come? Dabei ist es auch und gerade in tatsächlich oder vermeintlich schwierigeren Zeiten, in Phasen des Umbruchs oder der Stagnation, ja in eigentlichen Krisenzeiten – etwas modisch wird heute jedem Thema das Kompositum «-krise» angehängt – zentral, dass man den Wirtschaftsakteuren den nötigen finanziellen und regulatorischen Freiraum lässt, Innovation und Wachstum und damit über kurz oder lang Wohlstand für alle zu schaffen.

Auch wurde und wird die Wirtschaft Opfer ihres eigenen Erfolgs: Ihre Wertschöpfung ermöglichte die ständige Zunahme der Steuereinnahmen von juristischen wie natürlichen Personen, was die öffentliche Hand, namentlich den Sozialstaat, massiv wachsen liess. Dies wiederum schürt die Erwartungshaltung immer breiterer Schichten, auch etwas abzukommen, was erneut die Wirtschaft direkt oder indirekt belastet. Es ist zu befürchten, dass hier meinungsstrukturell etwas ins Rutschen geraten ist. Dass in der Schweiz die wirtschaftliche Selbstverantwortung einen deutlich breiteren und stärkeren Stellenwert als anderswo einnimmt, zeigte sich unter anderem an den beiden grössten bürgerlichen Parteien: Wo gibt es ansonsten eine «liberale Volkspartei» wie die FDP und wo eine Partei wie die SVP, die gleichzeitig pointiert sozialkonservativ und wirtschaftsliberal auftritt? Doch zumindest für den Moment wird die FDP immer weniger gross und die SVP immer weniger liberal. Umso wichtiger wäre es, hier Gegensteuer zu geben.

… und grosse Skepsis gegenüber der Politik

Auf der anderen Seite hat sich die Wirtschaft funktional ausdifferenziert und geografisch internationalisiert. Schöne Broschüren zu «Social Corporate Responsibility» hin oder her, den eidgenössischen Eigenarten wie Miliz, Nähe und Kleinteiligkeit fühlen sich viele nicht mehr so verbunden, ist vielen Wirtschaftsführern, besonders den ausländischen, auch nicht mehr vertraut. Allenfalls engagiert man sich in Nachbarschaftsprojekten oder in Sozialinstitutionen, macht aber um die institutionelle Politik einen Bogen. Zuweilen ist gar eine gewisse Angst vor dem Politisieren, den Politikern und der Politik zu spüren. Freilich bleibt ordnungspolitisch richtig, dass sich das Business, dessen Business nach Milton Friedman eben das Business ist, nicht als politischer Akteur im engeren Sinne versteht. Und mit dem Hüst und Hott in Sachen Regenbogen-Policy – vor und nach Trump – hat mancher Grosskonzern jüngst einen Reputationsschuh voll rausgezogen. Das soll die Wirtschaft aber nicht davon abhalten, die eigenen Positionen öffentlich zu benennen und zu vertreten und sich dabei – mutig! – auf die Mechanik, die Sprache und die Befindlichkeiten der heimischen Politik einzulassen. Ja, das braucht manchmal Überwindung: Ich habe selbstbewusste Manager erlebt, die vor kaum etwas so grossen Respekt hatten wie vor der Aufgabe, in einer Mehrzweckhalle die Gemeindeversammlung von einem grosses Bauprojekt zu überzeugen.

Auch schliesst fehl, wer der lokalen Politik die Bedeutung absprechen würde. Obwohl eine EU-Direktive oder eine US-Regulierung vor allem die Grosskonzerne härter treffen kann, belanglos ist das Regelwerk im eigenen Hinterhof nicht. Ich mag mich erinnern, dass sich ein Konzernleitungsmitglied eines (sehr) grossen Unternehmens bei mir bitter beklagte, nachdem in Basel-Stadt etwas überraschend eine Juso-Reichtumssteuer knapp angenommen worden war: Warum habe man sich nicht stärker dagegen gewehrt? Ich musste ihm dann erklären, dass es uns im Vorfeld gerade mal gelungen war, bei der Wirtschaft rund CHF 10 000 für eine Minikampagne zu ergattern.

Statt nur Profis …

Aber das Geld ist auch in der Politik nicht alles: Das Personal ist das andere. Unternehmer und Kaderleute aus der Wirtschaft haben in den Parteien und Parlamenten ab- und die professionellen Verbandsvertreter zugenommen. Auch diese machen gute Politik, doch die Authentizität des «echten» Patron fehlt. Der hauptberufliche Generaldirektor, der nebenamtlich im Nationalrat sitzt, ein Artillerieregiment kommandiert, die städtische Konzerthalle präsidiert und das Patronatskomitee der lokalen Alpenclubsektion leitet, ist weitgehend ausgestorben. Man(n) ist mehr gefordert, im Job, aber deutlich mehr auch zuhause. Den «neuen Mann» erachte ich – vollkommen wertfrei – als einen der Hauptfaktoren dafür, warum bei den Bürgerlichen das Personal quantitativ abnimmt.

So oder so sind heute weniger Leute bereit, Politik zu betreiben, sei es aus zeitlichen, sei es aus Prestigegründen. Dabei wäre dies insofern eine Boom-Branche, als deren Bedeutung – und das meine ich nun weniger wertfrei – laufend zunimmt, die Behörden
mehr und die Regulierungen dichter werden. Dass sich die Politik weg von den Milizlern hin zu den Profis entwickelt, dürfte dabei Grund und Auswirkung gleichermassen sein.

… auch Verwaltungsräte als Milizler

Was tun? Dem operativ tätigen Top-Manager auf C-Level kann man wohl tatsächlich keinen Vorwurf machen, wenn er heutzutage keine Zeit aufbringt, selbst Politik zu machen. Aber bei Wirtschaftsfrauen und -männern, die sich auf Verwaltungsrats- oder Beratungsmandate spezialisiert haben, die also einem Portefeuille verschiedener Aufgaben nachgehen, sollte es anders aussehen. Zum einen sind sogenannte Profiverwaltungsräte in der Regel mit mehr zeitlicher Flexibilität unterwegs und übernehmen ohnehin noch ein oder zwei ehrenamtliche Tätigkeiten, typischerweise aber in einer Kunstinstitution oder einem Club unter ihresgleichen.

Zum anderen verfügen Verwaltungsräte, oft schon älter, über breite Erfahrung aus verschiedenen Branchen oder zumindest unterschiedlichen Firmen. Sie wissen aus eigener Beobachtung, wo der Schuh im Wirtschaftsleben drückt, und können dabei beurteilen, ob ein konkretes Problem systemisch ist oder aber nur ein einzelnes Unternehmen betrifft. Schliesslich liegt das «Asset» von jemandem, der in verschiedenen Organisationen tätig ist, bekanntlich darin, dass sie oder er aus Erfahrung am einen Ort die Muster auch am anderen Ort erkennt und damit zur Problemerkennung und -lösung beitragen kann. Und genau dieses Multi-Verwaltungsrats-Know-how aus der Wirtschaft – von KMU bis SMI-Unternehmen – wäre in der Politik so hilfreich: Die Glaubwürdigkeit eines Verantwortungsträgers, der weiss, wovon er spricht, im Namen nicht nur einer Firma, sondern einer Branche oder darüber hinaus «der Wirtschaft».

Verwaltungsräte, die noch Charity oder Culture «machen», gibt es genug. Und ebenfalls solche, die gerne über die Politik schnöden und schimpfen oder auch gönnerhaft meinen, das sei zwar nichts für sie, aber sie seien sehr dankbar, dass es andere tun. Das reicht nicht aus. Warum sich als Verwaltungsrat nicht in einer Gemeindekommission oder einer regionalen Sozialbehörde, gar in einem kommunalen oder kantonalen Parlament engagieren? Das verspricht zwar weniger «fancy events» und mehr harte Knochenarbeit, aber es bringt Wirtschaftsverständnis und -akzeptanz zurück in die Schweizer Politik.

Und wem der Dienst an der Allgemeinheit zu wenig Befriedigung ist, dem sei gesagt: Es macht auch Spass! Man begegnet anderen Milieus und Ansichten, kann sich in unterschiedliche Themen vertiefen, verbessert die eigene Argumentations- und Diskursfähigkeit und lernt im Spiegel der Öffentlichkeit sich selbst nochmals neu kennen. Gleichzeitig wächst das Verständnis, wie und warum Politik und Verwaltung so funktionieren, wie sie funktionieren – Erkenntnisse, die man durchaus auch wieder ins Wirtschaftsleben zurücknehmen kann. Schliesslich soll ein wachsendes gegenseitiges Verständnis von Politik und Wirtschaft keine Einbahnstrasse sein. Und nicht zuletzt: Eben weil es heute weniger Leute in der Politik gibt, kann man erstaunlich rasch zu denen gehören, die einen Unterschied machen.

Probieren Sie es aus!

Dieser Artikel erschien zuerst in Recht relevant. für Verwaltungsräte

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